Normative Fluchtpunkte - Begriffe kritischer Sozialer Arbeit

Schwerpunkt

Begeisterung für die Macht als politische Grundhaltung Ein Gegenentwurf zur deutschen Rezeption von Empowerment

Die deutsche Rezeption von Empowerment lässt sich mehr oder weniger ausdrücklich auf Ressourcenorientierung reduzieren und ist dadurch politisch unterbestimmt. Dem soll ein ausgezeichnet politisches Verständnis von Macht gegenübergestellt werden, das einer langen Traditionslinie der politischen Theorie folgt und Macht mit dem Politischen identifiziert. Politisch qualifiziert ermächtigen können wir nur auf der Grundlage einer politisch qualifizierten Grundhaltung: der Liebe zur Macht.

Citizenship, Soziale Arbeit und Soziale Klassen Von der politischen Produktivität des Bürgers in der Sozialen Arbeit

Der Bürger befindet sich derzeit insbesondere in Deutschland in einer sehr ambivalenten Situation. Auf der einen Seite scheint diese Semantik in Debatten um Sozialpolitik und Soziale Arbeit geradezu en vogue. Die Rede ist vom Aktivbürger (vgl. Olk/Roth 2007), der Bürgergesellschaft (vgl. Enquete-Kommission 2002; Böhnisch/Schröer 2004), dem effective citizen oder gar dem citizen-worker of the future (vgl. Olk zit. nach Treptow 2008). Unter den Schlagworten bürgerschaftliches Engagement oder Partizipation erfahren gerade Kinder und Jugendliche und deren Beteiligungsoptionen in öffentlichen Einrichtungen und sozialen Diensten vermehrte Aufmerksamkeit. Dabei beschränkt sich dieser Diskurs bei weitem nicht mehr nur auf Beiträge aus den Reihen der internationalen Debatte um Kinderrechte bzw. der kritischen Bildungstheorie (vgl. Sünker et al 2005; Sünker/Moran-Elis 2008). Spätestens seit der Bertelsmann-Offensive MitWirkung (vgl. Fatke/Schneider 2005; Bertelsmann Stiftung 2007; Olk/Roth 2007) ist Bürgerschaftlichkeit von Kindern und Jugendlichen auch ein Thema der kommerziellen Politikberaterindustrie geworden. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden ein genauerer Blick auf den Begriff des Citizenship geworfen werden, nicht zuletzt um dessen politische Produktivität für die Soziale Arbeit unter Beweis zu stellen. Zu diesem Zweck soll zunächst (I) aus einer sozialwissenschaftlich-analytischen Perspektive Citizenship als politische Institution betrachtet werden, um dann im Anschluss (II) deren normativen Kern und die damit verbundenen Postulate von Demokratie und bürgerlicher Gleichheit zu beleuchten. Vor dem Hintergrund des damit verbundenen Spannungsverhältnisses (III) zwischen Citizenship und kapitalistischen Klassensystem werden zuletzt (IV) die Implikationen und Folgen für Soziale Arbeit herausgestellt.

Menschliche Verwirklichung

Vor dem Hintergrund einer skizzenhaften philosophiegeschichtlichen Rekonstruktion des Begriffes menschlicher Verwirklichung als eines zugleich emphatischen wie analytischen, - angefangen von Platon und Aristoteles, über Leibnitz und Wolff, bis hin zu Rousseau, Herder, Kant, Schiller, Schelling und Hegel - soll dessen dialektisch-materialistische Fassung durch Marx selbstregulationstheoretisch zu reformulieren versucht werden und in Beziehung gesetzt werden zum Projekt einer Sozialpolitik der Produzierenden, wie es von der Widersprüche Redaktion innerhalb ihres Programms einer Politik des Sozialen zu konzipieren versucht wurde.

Soziale Arbeit und Anerkennung Überlegungen zu einer gerechtigkeitsorientierten Konsolidierung von Disziplin und Profession

Handlungsfähigkeit, Selbstachtung, Selbstwirksamkeit, Autonomie - diese Gehalte Sozialer Arbeit sind assoziiert mit dem Begriff Anerkennung. In intersubjektiven Beziehungen, bezogen auf materielle, soziale und politische Zugangsmöglichkeiten, gesellschaftlichen Status, Gruppendifferenzen, Zugehörigkeiten und im Recht gilt Anerkennung als wesentlicher Aspekt der Wohlfahrtsproduktion. Gerechtigkeitstheoretisch lässt sich mit diesem Begriff die Positionierung der Akteure in der gesellschaftlichen Statushierarchie der Anerkennung in den Blick nehmen und fragen, ob ihnen als gleichrangigen Gesellschaftsmitgliedern egalitäre Teilhabe und Teilnahme - partizipatorischen Parität - zugestanden wird, oder ob sie im Gegenteil benachteiligt und durch institutionalisierte kulturelle Wertmuster daran gehindert werden, als Gleichberechtigte am Gesellschaftsleben teilzunehmen (Fraser 2003: 45).

Bemerkungen anlässlich der Auszeichnung mit dem Noam Chomsky Award of the Justice Studies Association 2008 (6

Einleitung: Die Auszeichnung mit dem Noam Chomsky Award of the Justice Studies Association bewegt mich sehr und ich bedanke mich ganz herzlich für diese Ehre. Man hat mich gebeten, bei dieser Gelegenheit über meine Arbeit, meine Interessen und meine Hoffnungen für die Welt zu sprechen. Um diesen großen Themen einen Rahmen zu geben, gehe ich zunächst kurz auf meine eigene Lebensgeschichte ein.

Forum

Transformation von Sozialstaatlichkeit und alltägliche Praktiken Der Fall Ein-Euro-Jobs

Der Beitrag nimmt die mit dem SGB II verbindlich eingeführten Arbeitsgelegenheiten (Ein-Euro-Jobs) zum Ausgangspunkt um sich der Frage des Verhältnisses von Staat, Subjektivität und Arbeit anzunähern. Sozial- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen des workfare oder der Aktivierung lassen sich im Kontext der aktuellen Transformation von Sozialstaatlichkeit verorten. Darüber geben Arbeitsgelegenheit einen Anlass, sich erneut mit dem gesellschaftlichen Begriff von Arbeit und Tätigkeit zu beschäftigen und die subjektiven Narrationen zu beleuchten. Der Beitrag geht der Frage nach, wie die Betroffenen im Alltag mit dem Instrument der Arbeitsgelegenheit umgehen und wie sich dies interpretieren lässt.

Rezensionen

über Pilch Ortega, Angela (2009): 'Indigene' Lebensentwürfe. Lernprozesse im Kontext konkurrierender Wissensprofile. VS-Verlag. Wiesbaden, 207 Seiten

Editorial

Mit der Frage nach den "normativen Fluchtpunkte" einer kritischen Sozialen Arbeit schließt das vorliegende Heft sowohl an die Auseinandersetzungen in Heft 100 als auch an die Positionsbestimmung des gleichzeitigen Verteidigens, Kritisierens und Überwindens im Kontext der Formulierung einer "Politik des Sozialen" an: "Verteidigt werden soll das materielle Substrat des sozialpolitisch Erreichten, kritisiert werden seine Herrschaftsfunktionen. Beides soll überwunden bzw. aufgehoben werden in Bedingungen, die neue Lebensweisen ermöglichen" (Redaktion Widersprüche Heft 32).

Mit dieser Positionsbestimmung formulieren die Widersprüche ein Programm, das gerade nicht der Gefahr ausgesetzt ist Kritik lediglich als eine Praxis zu betreiben, um - wie Judith Butler in ihrem Essay "Was ist Kritik" im Anschluss an Adorno (1976: 23) moniert - "subsumierend, sachfremd und administrativ über geistige Gebilde zu befinden und sie blank in jene geltenden Machtkonstellation einzugliedern, die zu durchschauen dem Geist obläge". Formuliert wird vielmehr eine Praxis der Kritik, die sich nicht auf die Praxis des Beurteilens reduzieren, sondern der es auch darum geht die dominanten (Macht-)Systeme gültiger Bewertung selbst herausarbeiten und zu hinterfragen.

Gleichwohl geht Kritik nicht in einer analytischen Praxis auf, die Bewertungssysteme in Frage stellt und sich ansonsten mit Positionierungen zurückhält. Kritik erscheint vielmehr als eine Praxis, die nicht umhinkommt über eine Offenlegung von Gegebenheiten und Verhältnisse hinaus, diese auch zu bewerten. Was fehlt ist jedoch eine systematische Debatte um angemessene Maßstäbe dessen, was als gut, richtig, erstrebenswert oder gerecht vertreten werden kann.

Ein Ausweisen solcher Maßstäbe kann in einer positiven wie negativen Form geschehen.

Loïc Wacquant beispielsweise schlägt eine ganze Reihe negativer Maßstäbe vor, wenn er die Konturen einer kritischen Sozialwissenschaft im Rekurs auf den historischen Prozess der Negation sozialer Negationen im Sinne einer nie endenden Anstrengung entwirft, soziale Verhältnisse weniger willkürlich, Institutionen weniger ungerecht, die Verteilungen von Ressourcen und Möglichkeiten weniger ungleich und Anerkennung weniger Furcht einflössend zu machen.

In der "unerwartete Rolle des Anwalts des Positiven" findet man indes Adorno (1975: 58): "Wenn es wahr ist", so führt er im Gespräch mit Ernst Bloch jenes Moment aus, ohne das eine Phänomenologie des utopischen Bewusstseins nicht auskäme, "dass ein Leben in Freiheit und Glück heute möglich wäre, dann wäre die eine der theoretischen Gestalten der Utopie <...>, dass man konkret sagen würde, was bei dem gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte der Menschheit möglich wäre - das lässt sich konkret und das lässt sich ohne Ausmalen und das lässt sich ohne Willkür sagen".

Ohne normative Fluchtlinien scheint indes Michel Foucaults Formulierung von Kritik auszukommen. Kritik wird bei Foucault mit der Frage danach verknüpft, wie es möglich sei, "dass man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird - dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird". Gleichwohl formuliert Foucault damit nicht nur einen Gegenstand der Kritik - "das Regiert-Werden" - sondern auch einen (negativ formulierten) Maßstab: "nicht so", "nicht dafür", "nicht von denen". Gleichwohl scheint ein solcher Begriff der Kritik so lange ohne einen normativen Bezug formulierbar, wie er abstrakt und formal bleibt. Sobald sich die Praxis der Kritik auf konkrete Konstellationen bezieht stellt sich indes durchaus die Frage ob es beispielsweise darum geht, auf eine nicht so bevormundende oder so unterdrückende Weise oder darum geht nicht dermaßen demokratisch regiert zu werden. Das Bevormundende und das Unterdrückende ließe sich dann als eine negative, das Demokratische als eine positive normative Metrik der Kritik beschreiben.

Das vorliegende Heft widmet sich der Debatte solcher normativen Fluchtlinien oder Metriken einer kritischen Sozialen Arbeit. Dabei geht es mit dem Normative aber weniger um die apodiktische Formulierung von Direktiven und Präskriptionen. Vielmehr liegt den Beiträgen vor allem jener weite Begriff des Normativen zu Grunde, der sich auf Gegenstände und Praktiken bezieht, die in einem 'Raum der Gründe'- im "logical space of reasons, of justifying and being able to justify what one says" (Sellars 1963: 169) - verortet sind. Kritische Soziale Arbeit gehört nun ohne Zweifel zu solchen Praktiken die sich an Gründen orientiert. Diese Gründe zu erörtern ist der Gegenstand dieses Hefts.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Joachim Weber sieht im Begriff der Macht bzw. Ermächtigung eine mögliche Maßeinheit kritischer Sozialer Arbeit. Auf der Basis einer Identifikation von Macht mit dem Politischen legt er eine Kritik und politische Erweiterung der deutschen Rezeption von Empowerment vor.

Ebenfalls auf einen politischen Begriff richtet sich der Beitrag von Thomas Wagner, der sich auf die Frage nach Citizenship und der Produktivität des Bürgers in der Sozialen Arbeit richtet. An die Adresse der Sozialen Arbeit richtet Wagner die Aufgabe der Staatsbürgerqualifikation und formuliert damit als normative Fluchtlinie die Sicherstellung von Demokratie und Gleichheit im Status des Bürgers.

Michael Mays Beitrag richtet sich auf die Frage "menschlicher Verwirklichung" als Kernfrage des politischen Projekts der Emanzipation. Auf Grundlage einer philosophiegeschichtlichen Rekonstruktion des Verwirklichungsbegriffs von Aristoteles bis Marx und einer Reformulierung dieses Begriffs auf Basis selbstregulationstheoretischer Prämissen, ordnet May menschliche Verwirklichung als wesentliche Größe in das Programm einer Politik des Sozialen ein.

In der Auseinandersetzung mit Nancy Fraser und Axel Honneth erörtert Catrin Heite die Möglichkeit einer gerechtigkeitsorientierten Konsolidierung der Disziplin und Profession Sozialer Arbeit über den Begriff der Anerkennung und darüber vermittelt über die Frage der Ermöglichung eines guten Lebens.

Im Rekurs auf eine Theorie menschlicher Bedürfnisse formuliert schließlich David G. Gil anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Noam Chomsky Award of the Justice Studies Association eine sozialpolitische Perspektive auf soziale Gerechtigkeit, deren Mittelpunkt das Interesse an den Möglichkeiten der Entwicklung und den Aussichten Wohlergehen der Individuen bildet.

Die Redaktion

Literatur

Adorno, T.W./Bloch, E. 1975: Etwas fehlt ... Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno 1964. In Traub, R./Wieser, H. (Hg): Gespräche mit Ernst Bloch. Frankfurt a.M.

Adorno, T.W. 1976: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt a.M.

Sellars, W. 1963: Science, Perception and Reality. New York

Errata

In der vorangegangenen Ausgabe der Widersprüche (Heft 111 Staatsbedürftigkeit der Klassengesellschaft - politische Sorge um die "Mitte") gingen - bis auf eine Ausnahme - im Lauf der Heftproduktion die Anmerkungen sämtlicher Texte verloren, was zur Folge hatte, dass die in der Druckausgabe veröffentlichten Texte ohne Anmerkungen erschienen. Wir möchten uns an dieser Stelle bei den Autorinnen und Autoren der Beiträge sowie den Leserinnen und Lesern des Heftes für diesen Fehler entschuldigen. Auf Anfrage hin sind pdf-Dateien der korrigierten Texte unter widersprueche@gmx.de erhältlich.

Entschuldigen möchten wir uns auch ausdrücklich bei Gabriele Winker, die im Kolumnentitel ihres Beitrags "Fragile Familienkonstruktionen in der gesellschaftlichen Mitte. Zum Wandel der Reproduktionsarbeit und den politischen Konsequenzen" namentlich falsch angeführt wurde.