
Staatsbedürftigkeit der Klassengesellschaft - politische Sorge um die Mitte
Schwerpunkt
Die Lage und die Zukunft der Mittelklasse kehren auf die Bühne der Zeitdiagnostik und in die Arena politischer Verteilungskonflikte zurück. Erworbene soziale und berufliche Positionen verlieren an Stabilität und Gewissheit. Die mittleren Lagen der Gesellschaft, die Facharbeiter, Techniker und Ingenieure in der industriellen Fertigung bzw. in industrienahen Dienstleistungen, aber auch die Fachangestellten in der Wohlfahrtspflege und der öffentlichen Verwaltung sehen sich mit neuen sozialen, beruflichen und wirtschaftlichen Gefährdungen konfrontiert. Dieser Problematik versucht die gesellschaftswissenschaftliche Debatte gerecht zu werden, wenn sie seit einiger Zeit von sozialer Verwundbarkeit und Prekarität spricht. In diesen beiden Formeln kristallisieren sich neue Prozesse sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit. Die Veränderungen der Arbeitswelt kommen in den Blick, aber auch wichtige Umbauten der wohlfahrtsstaatlichen Architektur. Nervositäten und Ängste, den sozialen, materiellen oder beruflichen Halt zu verlieren, werden sichtbar. Doch wie, wo und wodurch und mit welchen Folgen für das Gesamtgefüge der Gesellschaft ist die Mittelklasse bedroht? Drei Fragen sind zu stellen: Wie steht es um die Mitte der Gesellschaft? Wer ist in der Mitte der Gesellschaft gefährdet? Welche Gestalt nimmt die soziale Mitte an?
Seit einiger Zeit ist in Deutschland die politische Sorge um die Mittelschichten - oder kurz: die Mitte - allgegenwärtig. Auf den Listen bedrohter Sozialarten, mit denen in der politisch-medialen Öffentlichkeit hantiert wird, rangiert sie mittlerweile ganz weit oben. Ob es nun Debatten um Beschäftigungsunsicherheiten sind, die, ausgehend von den Rändern der Gesellschaft, zunehmend auch in deren Zentrum überzugreifen begännen; um die Belastungen durch Sozialversicherungsbeiträge, die über der (politisch definierten) Belastbarkeitsgrenze nicht nur der Arbeitgeber, sondern auch des durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushalts lägen; oder um die kalte Progression, die die ohnehin mäßigen Lohnsteigerungen für Facharbeiter und mittlere Dienstklassen sogleich steuerpolitisch aufzufressen drohe: Stets ist es die gesellschaftliche Mitte, die als erstes Opfer politischer Reformen und wirtschaftlicher Umbrüche angerufen, deren soziales Schicksal als Melkkuh und Zahlesel der Nation beklagt wird.
Seit einiger Zeit scheint ein lange gültiges gesellschaftspolitisches Tabu gebrochen worden zu sein, in Deutschland ist wieder von Klassenunterschieden die Rede. Versicherten in den 80er und 90er Jahren namhafte Soziologen wie Ulrich Beck noch glaubhaft, dass durch die gesellschaftlichen Entwicklungen der vorangegangenen Jahrzehnte es zu einer Auflösung traditioneller Herkunftsmilieus und einer zunehmenden Individualisierung gekommen sei, welche in eine Gesellschaft jenseits von Klasse und Stand (vgl. Beck 1983) geführt habe, erfahren Begriffe wie Schicht und Klasse in den letzten Jahren eine neue und zugleich ungeahnte Konjunktur (vgl. Redaktion Widersprüche 2005: 3f). Ein bedeutsames, dieses neue Klassenbewusstsein auszeichnende Merkmal ist, dass Klasse in erster Linie mit der Vorsilbe Unter versehen wird: Es ist die Rede von neuen Unterschichten (vgl. Nolte 2004). Dieser Beitrag stellt eine stark überarbeitete Version eines gleichnamigen Vortrags dar, welcher am 10.11.2007 an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen im Rahmen der langen Nacht der Wissenschaften gehalten wurde.
Die Einkommensmittelschicht schrumpft, die Zahl der an der Armutsgrenze Lebenden steigt. Damit verliert auch das Modell des Familienernährers seine Bedeutung. Im neoliberal verfassten Kapitalismus sind alle dazu aufgerufen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und für die eigene Reproduktion genauso eigenverantwortlich zu sorgen wie für die Erziehung der Kinder und die Unterstützung bedürftiger Familienangehöriger. Das Reproduktionshandeln aller Einzelnen verändert sich in dieser Situation. Es lassen sich ökonomisierte, prekäre und subsistenzorientierte Familienmodellen unterscheiden, in denen die anfallende Reproduktionsarbeit in unterschiedlicher Weise realisiert wird. Für alle diese Familienkonstrukte besteht insbesondere für die Arbeitssituation von Frauen unterschiedlicher, aber dringender politischer Handlungsbedarf.
In einem ersten Abschnitt wird vorschlagen, sich die Veränderungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihren Grundcharakteristiken zu vergegenwärtigen. Eine Analyse von Gesellschaftsgeschichte als Produktionsweise umfasst mehr als ökonomische Veränderungen. Auch aus einer materialistischen Perspektive sind damit Veränderungen politischer (und kultureller) Art verbunden. In einem zweiten Teil soll exemplarisch an der Sozialversicherung eine Kritik des fordistischen Wohlfahrtsstaats formuliert werden. Das Versicherungsmodell beruhte von vornherein auf einer falschen Grundlogik und forciert eine komplizierte Verwaltung - und ist nur verstehbar, wenn man die Aufgaben als Disziplinierungsmaschinerie einbezieht. Für den Neoliberalismus soll dann gezeigt werden, dass die staatsfeindliche Redeweise tatsächlich einen Bürokratisierungsschub bedeutete. Daher wird vorgeschlagen, Verstaatlichungen zu kritisieren und sie nicht als Anknüpfungspunkt für eine andere Politik zu (miss-)verstehen. Verstaatlichungen und Privatisierungen sind gegenwärtig Infrastrukturpolitik für das Kapital.
Forum
Wäre es nicht besser von Initiative als von Kampf zu reden? Es fällt mir schwer, nach der Kampf-Rhetorik der Erziehung- und Klassenkampfzeit der siebziger Jahre wieder von Kampf zu sprechen, wenn es um Auseinandersetzungen in der Sozialen Arbeit heute geht. Aber die jetzt circa fünfzig- bis achtzigjährigen Frauen und Männer, die als Kinder und Jugendliche in der Heimerziehung der vierziger bis siebziger Jahre leben mussten, kämpfen nun bereits seit 2004 in organisierter Form - einzelne schon seit vielen Jahren - um die Anerkennung ihrer Forderungen. Dieser Kampf wird ihnen aufgezwungen und geht für viele der Ehemaligen an den Rand ihrer Kräfte oder darüber hinaus. Hier von Konflikten oder Auseinandersetzungen zu reden, wäre eine Verharmlosung des Geschehens, die von Verantwortlichen der Organisationen ehemaliger TäterInnen und von PolitikerInnen mit Eifer und Ausdauer betrieben wird (Diakonisches Werk Deutschland, Caritas-Verband Deutschland, Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, Katholische Ordensgemeinschaften, Katholische Bischofskonferenz - der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland schweigt bisher - und Jungendministerkonferenz). Der Artikel liefert eine Chronologie des Kampfes.
Rezensionen
Editorial
"Die künftige Mittelklasse orientiert sich an fließenden Formen", so der Titel eines Trendberichts in der Süddeutschen zum Auftakt des alljährlichen Autosalons und den aktuellen Produktionskonzepten der großen Konzerne 2008 (21./22.6.08). Ohne Mühe und ziemlich treffsicher ließe sich mit diesem Slogan der Mainstream der derzeitigen Debatten um die "gesellschaftliche Mitte" kennzeichnen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein "stand" die Mitte als "Mittelstand". Sie symbolisierte, zusammen gesetzt aus akademischen Berufen, mittleren Angestellten, kleineren Gewerbetreibenden und Selbständigen, den ruhenden gesellschaftlichen Pol und war die beste Versicherung für politische Stabilität und Bollwerk gegen politischen Radikalismus. Sie garantierte Leistungsbereitschaft und versprach in diesem Sinne Aufstieg für leistungswillige Menschen aus der Arbeiterklasse. Sie wurde entsprechend politisch umworben, gehegt und gepflegt.
Spätestens mit der rot-grünen Koalition seit 1998 kam diese gesellschaftliche Mitte ins Fließen: Als modernes urbanes Projekt wurde die "Neue Mitte" von SPD und Grünen ausgerufen, dessen Gestalt künftig dominant geprägt sein sollte durch die in den neuen technischen Berufen (als Angestellte oder Selbständige) Tätigen und durch "intelligente Konsumenten". Die Agenda-Politik 2010 mutete dieser "Neuen Mitte" Großes zu: Bei der Modernisierung des Wirtschaftssystems, bei der Verschlankung und Effektivierung des Sozialstaats sollte sie die dynamische Hauptrolle spielen und gleichzeitig dadurch auch als Schubkraft für den "gesellschaftlichen Rest" wirken. Seitdem fließt die Mitte, wie sich anhand einschlägiger empirischer Studien feststellen lässt. Wenngleich die Aussagen zu Fließmenge und Fließgeschwindigkeit gewisser Interpretation unterliegen (vergl. hierzu z.B. die Beiträge von Lessenich und Vogel in diesem Heft), so kommt man nicht umhin, zur Kenntnis nehmen, dass sich die Schicht der Bezieher mittlerer Einkommen zwischen den Jahren 2000 und 2006 deutlich verringert hat, dass im Laufe der vergangenen 20 Jahre der Bevölkerungsanteil, der einkommensrelevant zur Mitte gezählt werden kann, von Zweidritteln auf nahezu die Hälfte abgesunken ist, und dass eine Abwärtsbewegung der Mitte in Folge von Leiharbeit, Minijobs und geringfügiger Beschäftigung stattfindet (vergl. DIW-Wochenberichte Nr. 10/2008 und Nr.4/2009).
Das (Ab)Fließen der Mitte führt zur Sorge um die Mitte - und zu Sorgen dieser Mitte "um sich selbst" (vgl. Lessenich in diesem Heft). Im öffentlich-politischen Diskurs weisen Attribute wie: "bedroht", "gefährdet", "verwundbar" auf den Ernst der Lage hin; und die Rede vom "harten Kern" der Mitte suggeriert einerseits, dass die Mitte als Mitte unaufgebbar und unverzichtbar erscheint, macht aber gleichzeitig die Unschärfe dieses gesellschaftlichen Gebildes deutlich und die Schwierigkeit, geeignete Kategorien der Zuordnung zu benennen. Mitte ist "gefühlte Mitte", und diese wird stark von "Nervositäten und Ängsten, den sozialen, materiellen oder beruflichen Halt zu verlieren", bestimmt (vgl. Vogel in diesem Heft).
Die Sorge der Mitte um sich selbst, um den Verlust von bislang als Selbstverständlichkeit, als "gutes Recht" für "Leistung" verstandenen Status und Distinktion, zeigt sich auf diversen gesellschaftlichen Feldern. Man verfolge nur einmal die erbitterten Widerstände von "Mitte-Eltern" gegen solche Modernisierungskonzepte im schulischen Bildungsbereich, die dessen soziales Selektionsprogramm zu reduzieren beabsichtigen und damit die Privilegierung gymnasialer Bildung in Frage zu stellen scheinen (vgl. hierzu die Auseinandersetzungen zwischen der Eltenorganisation "Wir wollen lernen" und der Schulbehörde mit ihrem Primar- und Stadtteilschulkonzept in Hamburg).
Wenn im Wahljahr 2009 alle Parteien sich in Sorge um die Mitte zeigen, dann ist dies auf den ersten Blick nicht mehr und nicht weniger als symbolische Politik, also Stimmenwerbung, welche den tatsächlich stattfindenden gesellschaftlichen Umbau übertünchen soll. Auf den zweiten Blick entpuppen sich solche Sorgen dann möglicher Weise als gezielt eingesetzte Strategien im derzeitigen herrschaftlichen Krisenbewältigungsdiskurs: "Mittelschichtgesellschaften entstehen nicht von selbst mit der Reifung einer Volkswirtschaft, sondern müssen durch politisches Handeln geschaffen werden", sagt Paul Krugmann. Und er plädiert dafür, sich von einer Auffassung zu verabschieden, die auch in progressiven Kreisen vorherrsche: nämlich dass der fordistische Kapitalismus, der die Gangsterkultur des Raubritterkapitalismus abgelöst habe, quasi automatisch eine Gleichheitskultur gefördert habe, wohingegen der postindustrielle neoliberale Kapitalismus wieder nahezu naturgemäß zu mehr Ungleichheit führe.
Es ist also weder ein Zufall noch aussschließlich den sozio-ökonomischen und damit auch biografischen Verwerfungen und polarisierenden Ungleichheitsentwicklungen geschuldet, wenn in diesem Ausmaß über die gesellschaftliche Mitte und damit auch über das gesellschaftliche Oben und Unten diskutiert wird, wie es in jüngster Zeit geschieht. Die Diskussion ist in ganz erheblichem Umfang Ergebnis einer Politik des sozialstaatlichen Umbaus, für den "Hartz IV" in den öffentlichen Debatten exemplarisch steht. Mit den im Rahmen der Agenda 2010 unter Rot-Grün beschlossenen Veränderungen im Bereich der sozialen Absicherung bei Erwerbslosigkeit oder nicht existenzsichernden Einkommen, der Rentenversicherung und der Krankenversicherung wird das Prinzip der Orientierung von Sozialleistungen am Lebenstandard in Lohnarbeit verabschiedet. Getroffen werden damit vor allem die Angehörigen der Klassen und Milieus, denen der bundesdeutsche Sozialstaat immer versprochen hatte, dass sich ihre Leistung in der Lohnarbeit insofern lohnt, als die Leistungsansprüche im Falle des Einritts der klassischen gesellschaftlichen Risiken der ArbeiterInnenexistenz sich am erzielten Erwerbseinkommen, sprich an der Position in der Hierarchie der Arbeit orientieren und das Maß an subsidiärer Eigen- oder Familienverantwortung und damit verbundener Bedürftigkeitsprüfungen zumindest für die männliche Fraktion gering hielt. Die sozialstaatliche Politik der Agenda 2010 setzte, so paradox es klingen mag, unter dem Slogan der Modernsierung auf eine Ausweitung des Fürsorgegedankens im Sinne einer minimalen Grundsicherung und einer paternalistischen Politik des Forderns, welche die Integration in Lohnarbeit um jeden Preis zum Modell gesellschaftlicher Inklusion macht. Diese Logik der Fürsorge in Richtung eines Workfare-Regimes, die von jeher zur sozialstaatlichen Behandlung primär armer, gering verdienender, erwerbsloser Haushalte am sogenannten Rand der Gesellschaft gehörte, wurde und wird nun ausgeweitet auf die Klasse der "arbeitnehmerischen Mitte". Die Politik der Aktivierung bringt damit das Ordnungsgefüge des Sozialstaats Bismarck'scher und fordistischer Prägung mit seiner Trennung von Arbeiterpolitik und Armenpolitik ins Wanken. Für die gesellschaftlichen Gruppen, deren Lebensperspektiven aktuell unter der Chiffre der Mitte diskutiert werden, war gerade das Sozialversicherungssystem grundlegendes Moment ihrer "social citizenship". Und für diese Gruppen trifft das von Robert Castel stammende Bild der "Gesellschaft der Ähnlichen" am besten, geht er doch davon aus, dass die Sozialversicherungen als "soziales Eigentum" das erkämpfte Äqivalent zum Privateigentum der Bürger sind und somit sowohl eine Schutzfunktion haben als auch funktional sind für die Mobilität der Menschen mit ihrer ganz besonderen Ware Arbeitskraft. Mit dieser grob skizzierten Politik des aktivierenden Sozialstaatsumbaus wird das in der "arbeitnehmerischen Mitte" vorhandene Gerechtigkeitsempfinden (Tausch von Arbeitsleistung gegen ein soziales Sicherheitsversprechen) empfindlich gestört. Hinzu kommt noch als Verunsicherungsfaktor die Ausweitung von finanzieller Eigenverantwortung für die Alterssicherung und die Gesundheitsversorgung in Zeiten zunehmender Erosion versprochener, erfahrener und geglaubter Sicherheiten in Arbeitsverhältnissen und privaten Lebenslagen. Vor allem letztere erhalten im Rahmen der Grundsicherung von Hartz IV durch die verschärften Unterhaltspflichten in diesen Haushalten einen Schub zugunsten traditioneller Geschlechterverhältnisse bei gleichzeitiger Ausweitung des Lohnarbeitszwangs. Diese aktivierende Politik des sozialstaatlichen Umbaus ist eine Politik der sozialen Verunsicherung, und sie trifft auf höchst ungleich verteilte Vermögen, mit diesen Zumutungen umzugehen.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Berthold Vogel befasst sich in seinem Text mit den Prekarisierungsgefahren und Deklassierungsängsten der Menschen, die sich als qualifizierte Arbeitskräfte in unterschiedlichen Sektoren der Industrie, Dienstleistung und des Staates in mittleren Soziallagen befinden. Er geht den Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung dieser sozialen Milieus nach und fragt dabei nach dem Einfluss von sozialpolitischen Regulierungen sowie nach Flexibilisierungs- und Prekarisierungsprozessen in Arbeitsverhältnissen. Er weist dabei auf den hohen Stellenwert hin, den der Ausbau des Sozialstaats in Deutschland historisch für die Konstitution dieser sozialen Gruppierungen z.B. als Aufstiegsmilieus hatte und den der Umbau der Sozialstaatlichkeit aktuell für die Spaltung dieser Milieus in absteigende, abstiegsgefährdete und gewinnende Gruppen hat. In diesen aktuellen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen bilden sich neue soziale Ungleichheiten aus und es gibt Kämpfe um rechtliche und politische Positionen, die immer auch Kämpfe um soziale Klassifizierungen und Unterscheidungen sind. Für die Interessensdurchsetzung in diesen Positionskämpfen spielt die Gestalt staatliche Politik eine wesentliche Rolle, so dass man mit Recht davon sprechen kann, dass in diesen Konflikten der Mittelklasse eine Staatsbedürftigkeit artikuliert wird.
Der "Mitte" als einer Metapher für gesellschaftliche Veränderungsprozesse widmet sich auch Stephan Lessenich. Neben der Darstellung des Wissens um die sozio-ökonomischen Dimensionen der Veränderung in der Sozialstruktur befasst er sich vor allem mit der normativen Rolle, die das (Selbst)bild der Mitte in der bundesrepublikanischen Gesellschaft spielte und spielt. Die normative Kraft geht nach Lessenichs Argumentation nicht nur von unterstellten oder realen Integrationsprozessen aus, sondern auch von sozialen Aus- und symbolischen Abgrenzungsprozessen dessen, was als Mitte galt bzw. gilt. Seine Betrachtung stellt die sozialstrukturelle Spaltungs- und Differenzierungsdynamik in den Mittelpunkt und zeigt, wie in sozialstaatlicher Aktivierungspolitik soziale Zensuren zugunsten leistungswilliger Klassenmilieus verteilt werden. Dies ergeben gleichzeitig das Legitimationsmuster für die Existenz einer Unterklasse.
Wie dann von wem die Zensuren, die zuungunsten der unteren sozialen Klassenmilieus vergeben werden, mit der These einer neuen Unterschicht empirisch und kulturalistisch untermauert werden, stellt Thomas Wagner in seinem Beitrag nach. Er bietet einen Rückblick über die Underclass-Debatte in den USA und einen Überblick über die Diskussion um Unterschicht und abgehängtes Prekariat in Deutschland. Er konfrontiert die populären herablassend-kulturalistischen Positionen mit Ergebnissen aus der Armuts- und Ungleichheitsforschung und interpretiert die Unterschichtsdebatte als modernisierte Neuauflage der klassischen Diskussionen über würdige und unwürdige Arme sowie die gefährlichen Klassen, die politisch das Ziel verfolgen, "die da unten" von solidarischen Sicherungs- und Beteiligungspolitiken fern zu halten.
Wie eine aktivierende und an Investitionen in Humankapital interessierte staatliche Sozialpolitik nicht nur programmatisch, sondern im Detail klassenspezifisch und genderspezifisch wirkt, zeigen Gabriele Winker und Ellen Bareis in ihren Texten. Gabriele Winker betrachtet familien- und sozialpolitische Maßnahmen vor dem Hintergrund der Veränderungen der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse. Die Krise des klassischen Ernährermodells wird nachgezeichnet, und neue Anforderungen an die Reproduktionsarbeit werden vorgestellt. Familienpolitische Maßnahmen wie das Elterngeld oder der Ausbau frühkindlicher Betreuungsangebote aber auch Maßnahmen im Bereich der Pflegeversicherung werden als wirtschaftspolitisch motivierte Unterstützung der Erwerbstätigkeit von Frauen in mittleren und einkommenstarken sozialen Positionen interpretiert. In welcher Weise die Balanceakte zwischen Lohn- und Reproduktionsarbeit gemeistert werden müssen, wird an drei Familienmodellen gezeigt: outsourcing der Reproduktionsarbeit im Dopperlverdienermodell, weibliche Doppelbelastung im prekären Familienmodell und individuelle Überlebensstrategien im subsistenzorientierten Familienmodell. Vor dem Hintergrund dieser Modelle werden politische Handlungstrategien diskutiert, die professionelle Dienstleistungen, gesellschaftliche Aufwertung von Reproduktionsarbeit und existenzielle Absicherung (Zeit und Geld) der Akteure und Akteurinnen verbinden.
Christine Resch nimmt abschließend die Frage der Staatsbedürftigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse wieder auf und verhandelt sie im Rahmen einer Auseinandersetzung um die Grundcharakteristika der kapitalistischen Produktionsweise. Ihr besonderes Augenmerk richtet sie dabei auf die Betrachtung des fordistischen Sozialstaats am Beispiel der Sozialversicherungssysteme und auf die Analyse der neoliberalen Produktionsweise. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass entgegen aller Rede von der Abdankung des Staates unter neoliberaler Regulation gerade auch die marktfromme Programmatik und Praxis staatsbedürftig sei: Die Staatsbedürftigkeit realisiert sich politisch in einer Infrastruktur für die kapitalistische Produktionsweise, zu der nicht zuletzt die Beförderung und Pflege der nötigen Arbeitsmoral und selbstverantwortlichen Subjektivität der ArbeitskraftunternehmerInnen gehört.
Die Redaktion