Politik des Sozialen - Verhandlungen über Lebensweisen - Moralische Ökonomien heute

Schwerpunkt

MARKT MACHT MORAL Zur moralischen Ökonomie der Sozialen Arbeit

[p]Markt macht Moral - Auf diesen Nenner lässt sich die hegemoniale Botschaft bringen, die uns aus allen Medien entgegenschallt und auf die Durchkapitalisierung aller Lebensbereiche zielt. Verpackt in die griffige Botschaft vom Fördern und Fordern beziehungsweise Fordern und Fördern wird darin deutlich, dass nicht nur für die unterdrückten Gruppierungen einer Gesellschaft Ökonomie etwas mit Moral zu tun hat sondern auch für den herrschenden Block an der Macht (Gramsci). Von Beginn an war die politische Ökonomie als Wissenschaft auch immer Moralwissenschaft (Adam Smith hatte einen Lehrstuhl für Moralphilosophie inne). Wie Edward P. Thompson (1980) für die Entstehung und Michael Vester (1970) für die Bildungs-Zyklen der Arbeiterklasse herausgearbeitet haben, bilden Markt, Macht und Moral Kampfarenen in diesen Prozessen. Der Markt steht für die neue, von Menschen gemachte Ordnung; Macht wird ab jetzt nicht mehr verliehen, sondern entsteht in und aus sozialen Bewegungen; und Moral gibt es ab jetzt im Plural: Jede Lebensweise bildet ihre eigene heraus. Die Beziehung dieser drei Arenen untereinander lässt sich mit E.P.Thompson als moralische Ökonomie (1980) fassen.[/p] [p]In diesen grundlegenden gesellschaftlichen Prozessen spielt die Soziale Arbeit weder systematisch noch historisch eine gestaltende oder Initiative ergreifende Rolle. Allerdings - so lässt sich die Geschichte der letzten 150 Jahre zusammenfassen - hat sich die Soziale Arbeit aus dem Souterrain der großen Disziplinarprofessionen Medizin, Justiz und Theologie herausgearbeitet und nimmt zusammen mit den pflegenden Berufen mittlerweile eine Spitzenstellung in den hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaften an, jedenfalls was ihre Anzahl angeht.[/p] [p]Um den Zusammenhang von moralischer Ökonomie und Sozialer Arbeit herauszuarbeiten, soll zunächst kurz auf die aktuelle Rahmung diese Prozesses eingegangen werden, um dann die jeweils besondere Position der Sozialen Arbeit in den drei Kampfarenen Markt, Macht und Moral zu untersuchen. Die abschließende Zusammenfassung kann nicht mehr als ein Hinweis auf die Perspektive einer kritischen Sozialen Arbeit in diesem Kontext sein.[/p]

Forum

Kinder des Widerstands im Nationalsozialismus Familiale und politische Sozialisationsprozesse

Rezensionen

über Frank Adloff/Steffen Mau (Hg.): Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Campus Verlag Frankfurt/New York 2005
über Franz Schulheis, Kristina Schulz (Hg.): Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2005
über WIDERSPRUCH, Beiträge zu sozialistischer Politik. Heft 49, 25.Jg. 2

Editorial

Zwischen Wirtschaft und Institutionen der "Moral" finden wir in jeder Phase der kapitalistischen Entwicklung geschäftige Verbindungen, um die Lebensweisen von anderen zu strukturieren und die Leute mit "Moral" zu versorgen. Die heutigen Propagandisten der neoliberalen Transformation der Gesellschaft moralisieren arbeitsteilig. Die Werbung für die Erwerbsmentalität und die Selbstmobilisierung des Arbeitskraft-Unternehmers (und der durch Arbeit, Kinderbetreuung und Zeitmangel-Management über sich hinauswachsenden Arbeitskraft-Unternehmerin) richten sich an "uns", an die "Mitte der Gesellschaft". "Nach oben" werden von Medien-Intellektuellen Moralpredigten und moralische Appelle veröffentlicht, doch nicht allzu marktradikal zu agieren und das Wohl Aller eines "Wirtschaftsstandortes" im Auge zu behalten. "Nach unten" beobachten wir als Teil der "Politik der neuen Unterschicht" (so der Untertitel des vorherigen Heftes 98 der WIDERSPRÜCHE) moralische Deklassierungen und die Verbindung von Moral und Sanktion(-sdrohung). Wir können zudem bemerken, dass die veröffentlichte Kritik des neoliberalen Umbaus des Sozialstaates leicht als eine "Besitzstandswahrung" abgewehrt werden kann. Die Machtlosigkeit dieser Kritik liegt auch daran, dass die Akteure an ihrer Neutralisierung durch die Modernisierer tüchtig mitarbeiten: Der vielfach begrenzte und zu überwindende, weil auf Warenform, disziplinierte Lebensweise, Bürokratie und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Form der fordistischen Kleinfamilie bezogene Kompromiss "Sozialstaat" wird zu einem wiederherstellbaren Zustand definiert und zur überhistorischen Norm erklärt. Gegen dieses traditionalistisch werdende, normative Muster von Kritik wurde in Heft 97 der WIDERSPRÜCHE (gemeinsam mit der AG links-netz) das Projekt verfolgt, die Politik des Sozialen auszubuchstabieren und Umrisse einer "sozialen Infrastruktur zum Betreiben des eigenen Lebens" zu skizzieren. Verhandelbar werden Lebensweisen erst, wenn wir herrschende Begriffe kritisieren und neue entwickeln.

Durch Klassenpolitik, patriarchale, lohnarbeitsbezogene Sozialpolitik, das zugehörige mehr oder weniger benevolente oder aber repressive Moral-Unternehmertum sowie durch Prozesse sozialer Ausschließung wird machtvoll eine je benötigte Arbeitsweise und die darauf bezogene Lebensweise hergestellt. Der Fortschritt der Herrschaftstechniken hat mit der Durchsetzung des Arbeitskraft-Unternehmers keinen Einbruch erfahren. Die zugehörige Sozialpolitik des "Forderns und Förderns" einschließlich einer darauf zugeschnittenen aktivierenden Sozialen Arbeit wird durchgesetzt; davon können wir ausgehen; Situationen sozialer Ausschließung, erzeugt durch den Markt und die Sozialpolitik werden zu normalen Erfahrungen werden.. Dies ist angebrachter Pessimismus in Bezug auf die Durchsetzbarkeit der neoliberaler "Arbeitsmoral", verstanden als ein Prinzip von Strukturen und Institutionen.

Dass diese Lebens- und Arbeitsweise notwendig, selbstverständlich und unvermeidbar ist und ohne Anstrengungen der Abwehr oder der strategischen (Aus-)Nutzung durch die Subjekte sich durchsetzt, müsste zumindest die gebildete Klasse gegen ihr verfügbares, reflexives historisches Wissen behaupten. Doch die notwendigen Voraussetzungen und das Interesse, durch Begriffe und erzählbare Geschichten für die Verstehbarkeit der alltäglichen adaptiven oder widerständigen Praktiken zu sorgen, scheinen fast allen Fraktionen der heutigen Wissensarbeiter zu fehlen. Ein Arbeitsbündnis, das Formen der Bearbeitung der veränderten Form kapitalistischen Wirtschaftens durch die Subjekte sowie die Folgen der Entgrenzung der Warenförmigkeit im Bereich des Sozialen in Erfahrung bringt und ihren Sinn dokumentiert, lässt sich jedoch in einem Lernprozess herausarbeiten. Dies ist sowohl die Voraussetzung, das Ideologische der Politik der "neuen Unterschicht" zu analysieren wie radikale Gegenentwürfe zur herrschenden Politik mit dem Sozialstaat zu denken. In dieser Hinsicht führt dieses Heft Diskussionen der beiden vorangegangenen Hefte der WIDERSPRÜCHE fort. Der Akzent verschiebt sich auf die Seite der Subjekte und dem "Nicht-Warenförmigen" (Heinz Steinert) ihrer Lebensweisen.

Unter gegebenen neoliberalen Verhältnissen Formen der Sozialen Arbeit einzuschmuggeln, die an Befreiungen orientiert sind, erfordert entschiedene Anstrengungen, Motive und Vorstellungen von einem "guten Leben" aus Formen des Wirtschaftens und des sozialen Austauschs derer herauszufinden, die als "Überflüssige", als "Ausgegrenzte", als "Marginalisierte" oder als "Unterschicht" etikettiert werden. Die notwendige Annäherung an die alltäglichen Anstrengungen und Kämpfe um Teilhabe der sozialen Akteure hält sich bei Intellektuellen nicht zuletzt deshalb in Grenzen, weil in den Gegenstrategien die Dialektik von Befreiungzu fehlen scheint. Gegen die vorschnelle Denkfaulheit, dass alles, was wir nicht sehen, den Anderen "fehlt", wenden sich die unter dem Schwerpunktthema versammelten Beiträge. Im Zentrum steht der Begriff der "moralischen Ökonomie" von Edward P. Thompson sowie die Anwendung und Aktualisierung seiner Perspektive, um Alltagspraktiken der Leute verstehbar zu machen.

Zu den Beiträgen im Einzelnen:

Um die Selbstverständlichkeit aufzubrechen, mit der die "Moral" des Marktes und die "Moral" der modernisierenden sozialen Steuerungs-Technologien im Bereich der Sozialen Arbeit hingenommen werden, erinnert Timm Kunstreich an die Marx'sche Kritik des Warentauschs und an den Inhalt dieser Moralen: Menschliche Arbeit und Kooperation auf das Tauschprinzip reduziert. Gegen den Moraldiskurs in der Sozialen Arbeit sowie gegen die vorherrschende Begriffsarmut für Formen der "impliziten Kritik" in Alltagspraxen skizziert Kunstreich Prinzipien der Sozialen Arbeit, die dialogisch agiert und ein "gemeinsames Drittes" von Professionellen und Adressaten verhandelt. Diese gegen die hegemonialen Moralen und Moralisierungen gerichteten Prinzipien und Praktiken nennt er "moralische Ökonomie" der sozialen Arbeit. Cornelia Frieß und Marcus Hußmann führen uns an den Begriff der "moralischen Ökonomie" und die Perspektive von Thompson auf die "plebeische Kultur" heran. Eine Kultur, die aus der Auseinandersetzung mit der verordneten frühkapitalistischen Lohnarbeit und der disziplinierten Lebensweise entstand, die traditionelle Erfahrungen eines "guten Leben" bewahrt und dennoch damit eine neue Lebensweise erzeugt hat. Am Beispiel der "Kinder- und Jugendhilfezentren" in Hamburg aktualisieren die Autorin und der Autor den Begriff der "moralischen Ökonomie" und konkretisieren die Möglichkeiten einer auf die Situationen und die (meist individualisierten) Nutzerinnen und Nutzer von sozialen Dienstleistungen eingehenden "generativen Methode" der Sozialen Arbeit. Hans Jürgen Benedict legt dar, dass es verkürzt wäre, Christentum nur als eine nützliche Institution der Moral von Äquivalententausch und sozial "gemilderter" kapitalistischer Warenökonomie zu sehen. Er erinnert an die christlichen Quellen und den "Charme" der nicht verpflichtenden Gabenökonomie sowie die ermunternden Erfahrungen mit dem Gabenaustausch gerade in den heutigen, spätkapitalistischen Verhältnissen. Die Kontinuität der Moralisierung von Bewältigungsstrategien armer Leute und ihrer Subkulturen bzw. Lebensweise ist das Thema von Helga Cremer-Schäfer. Wissenschaft spielt in den sozialen Klassifikationskämpfen mit, so die These, weil die Reflexion ihrer Individuum und Gesellschaft verbindenden Handlungsmodellen unterbleibt und kulturalistische bzw. ätiologische Erklärungsmuster für soziales Handeln reproduziert werden. Dagegen helfe, Moralen und Lebensweisen (wie die "moralische Ökonomie" der plebeischen Kultur) als ein widersprüchliches Ganzes zu verstehen. Die zugrundeliegende "Moral" wäre, unterschiedliche Interessen und normative Prinzipien auszubalancieren. Zum Schwerpunktthema passt schließlich der Rezensionsessay von Barbara Rose zu der Publikation von Klassikern der "Soziologie der Reziprozität" und des sozialen Austauschs. Mit der aktuellen Rezeption wird sichtbar, dass Normen des sozialen Austauschs keineswegs überhistorischer Natur sind, sondern Formen und Inhalte der Gegenseitigkeit stets umkämpft, festgelegt und von ungleichen sozialen Akteuren ausgehandelt werden.

Die Redaktion