
Von der Naturalisierung der Gesellschaft
Schwerpunkt
Der Beitrag plädiert für den Versuch, einen genuin sozialpsychologischen Zugang im Kontext gesellschaftstheoretischer Fragestellungen erneut zu stärken. Das damit verbundene analytische Potenzial, das von den Vertretern der Frankfurter Schule und einer Kritischen Theorie der Gesellschaft immer schon selbstverständlich in Dienst genommen werden konnte, bleibt heute weit gehend unausgeschöpft. Von dem Ansatz Marcuses ausgehend wird der Blick auf die Konstituierung des Unbewussten versucht. Die Aktualisierung zeigt, dass dabei nicht der ethologische, sondern vielmehr der sozialkonstruktivistische Gehalt des Konstrukts Trieb heute noch Geltung beanspruchen kann. Umso mehr kommt damit in den Blick, wie weit gesellschaftliche Verhältnisse die natürliche Konstitution von Individuen prägen, bis in die Wünsche und Präferenzen hinein. Zentral für eine sozialpsychologische Erweiterung des soziologischen Fokus‘ ist nicht zuletzt deshalb, die Analyse von Triebstrukturen mit der Analyse von Herrschaftsstrukturen zu parallelisieren. Nur dann werden sowohl der antiessentialistische wie auch der herrschaftskritische Impuls der Kritischen Theorie gleichermaßen bewahrt. Als eine Möglichkeit, hier mit neueren Theoriekonzepten anzuschließen, stellen wir die Soziologie Pierre Bourdieus in die hier dargelegte Tradition Kritischer Theorie.
Herbert Marcuses Zeitdiagnose in [em]Triebstruktur und Gesellschaft[/em] scheint 50 Jahre nach deren erstmaligen Publikation stimmiger denn je. Mit Blick auf die heutigen Formationen sozialer Zusammenhänge stellt sich dem Leser bei der Re-Lektüre sogar schnell die Frage, ob Marcuse mit seiner damaligen Analyse nicht seiner Zeit eher noch voraus war: Die von Marcuse 1955 unter triebtheoretischer Perspektive analysierte westliche Kultur, die nicht nur die soziale, sondern auch [die] biologische Existenz des Menschen unterjoche (Marcuse 1955/1965: 17), scheint sich in den fortgeschritten-kapitalistischen und -liberalen Arrangements in einer Weise radikalisiert zu haben, dass man Marcuses Diagnose als nachträglich bestätigt lesen kann. Schließlich steht im Zentrum aktueller neo-liberaler Programmierungen und entsprechender Re-Strukturierungen sozialer Zusammenhänge gerade ein Regieren über die Freiheit der Gesellschaftsmitglieder – eine Regulierungslogik, die Marcuse schon 1955 zu beschreiben scheint, wenn er von einem Kampf der Kultur gegen diese Freiheit spricht (ebd.: 20). Die kulturellen Radikalisierungen der letzten 50 Jahre könnten also mit Marcuse als konsequente Fortführung des Fortschritt[s] der Kultur bestimmt werden – einer Kultur, die, so Marcuse damals im direkten Anschluss an Sigmund Freud, zum Freiwerden zunehmend zerstörerischer Kräfte führt (ebd.: 58).
Der Beitrag versucht anhand einer ausführlichen Rekonstruktion von Marcuses Werk Triebstruktur und Gesellschaft nachzuweisen, dass die von Fabian Kessl und Holger Ziegler formulierte Kritik an der Pointe der Marcuseschen Argumentation vorbeigeht. Aufgenommen von dieser Kritik wird, dass Marcuses auf Freud gestützte Argumentation selbst einigen Mystifikationen anheim fällt. Gezeigt werden soll, dass eine selbstregulationstheoretische Reformulierung diese nicht nur zu überwinden, sondern damit zugleich die von Marcuse erhobenen Ansprüche an eine kritische Theorie der Natur der Gesellschaft konsequenter als dieser selbst einzulösen vermag.
Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Art, wie Marcuse das Verhältnis von Individuen und Gesellschaft konzipiert und untersucht die Frage, inwieweit Marcuses Intuitionen auch noch heutige Gesellschaftstheorie befruchten können. Dazu beschreibe ich weniger den genauen Aufbau und die Grund legenden Thesen von Marcuses Werk Triebstruktur und Gesellschaft, sondern wende mich allgemeiner der Architektur zu, die in Marcuses Theorie Gesellschaft und Individuen vermittelt. Der Einwand, Marcuse beschreibe Gesellschaft von außen, ohne seine Theorie mit dem subjektiven Sinn der vorhandenen geteilten Lebenspraktiken in Beziehung zu setzen, ist allerdings schwerwiegender. Entsprechend untersuche ich einige weitere Ansätze darauf, ob sie diesem Problem entgehen und gleichzeitig die theoretischen Intentionen Marcuses aufrechterhalten können. Abschließend entwickele ich einige Bedingungen, die eine Aktualisierung von Marcuses Ansatz erfüllen müsste.
In John Updikes neuem Roman Terrorist soll die schwarze Freizeitprostituierte Joryleen ihren ehemaligen Schulkameraden Ahmed, Sohn einer amerikanischen Irin und eines flüchtigen Ägypters, auf Geheiß seiner Arbeitgeber, fundamentalistischer libanesischer Möbelhändler, verführen. Dabei entspinnt sich folgender Dialog entspinnt: Manchmal so gesteht ihr Ahmed, als sie gemeinsam – er angezogen, jedoch erregt und erigiert, sie nackt – auf der Matratze eines Möbellagers in New Jersey liegen manchmal ist in mir so eine Sehnsucht, mich mit Gott zu vereinigen, um seine Einsamkeit zu lindern..., worauf ihm Joryleen antwortet: Zu sterben meins du? Du machst mir schon wieder Angst, Ahmed, wie geht’s denn dem Steifen da, der mich ständig stupst. Nach seinem ersten Sexualakt habe sich der bis dahin jungfräuliche Ahmed, so der Erzähler, von seiner Ejakulation so müde gefühlt, dass die Vorstellung er könnte zu Bett gehen und nie mehr aufwachen, keinen Schrecken für ihn besitzt.
Rezensionen
Editorial
Mit Natur der Gesellschaft hatte die Deutsche Gesellschaft für Soziologie ihren 33. Kongress im vergangenen Oktober in Kassel überschrieben und damit ein hochaktuelles Thema aufgegriffen. Denn die weltweiten Diskussionen um immense klimatische Verschiebungen und deren fundamentale Konsequenzen für soziale Zusammenhänge, aber auch Phänomene wie das der Biopiraterie oder der zunehmenden Zuschreibung genetischer Verantwortung an die Einzelnen machen eine Auseinandersetzung um "Naturverhältnisse" und die damit verbundene Regulierung bzw. Regierung der Natur notwendiger denn je. So ist im Themenpapier des Kongresses zum Hauptprogramm auch zu lesen, "dass in dem heute beobachtbaren epochalen Geltungszuwachs der Biologie 'Kultur' nicht einfach mehr durch 'Natur' ersetzt wird; vielmehr wird nach neuen und anderen Mischungen einer kulturierten Natur oder einer naturbedingten Kultur gefragt. Dies eröffnet die Chance, eingespielte Dichotomien zu verabschieden, wenn es um die Frage geht, was am Menschen als 'natürlich gegeben' und was als 'gesellschaftlich vermittelt', was als 'technisch machbar' und was als 'ethisch erlaubt' anzusehen sei" (DGS 2006: 13). Die damit zumindest prinzipiell eröffnete Gelegenheit, gesellschaftliche Regulationen, Subjektkonstitutionen und "Naturverhältnisse" systematisch analytisch und relational zu fokussieren, wurde während des Soziologiekongresses allerdings weit gehend verschenkt. Denn statt einer kritischen Auseinandersetzung mit den hegemonialen Prämissen einer naturwissenschaftlichen Perspektive auf soziale Praktiken, wurde häufig das konservative Grundmuster einer affirmativen Synthese auf die Agenda gesetzt. Im Jargon der Veranstalter/innen liest sich dies folgendermaßen: Es gehe darum, einen "Dialog mit Genetik und Neurobiologie" zu führen, der ja die Möglichkeit eröffne, dafür Sorge zu tragen, dass "die physiologischen Folgen der Veränderung sozialer Umweltbedingungen ebenso wieder ins Spiel kommen, wie die Kraft bestimmter 'Prägungen' und 'Pfadabhängigkeiten'" (DGS 2006: 13). Damit ist der analytische Blick auf "Naturverhältnisse", eine "Regierung der Gene" oder eine "Kritik der gentechnologischen Vernunft", um nur stichwortartig mögliche sozialwissenschaftliche Zugänge anzudeuten, schon von Veranstalterseite weit gehend verstellt gewesen.
Aus der Unzufriedenheit über diesen verengten Themenfokus und anlässlich des Kongresses sind einige der hier in diesem Widersprüche-Heft versammelten Autoren der Frage nachgegangen, welche Denktraditionen für eine angemessenere sozialwissenschaftliche Perspektive in diesem Zusammenhang bereits vorliegen? Keineswegs überraschend ist, dass sie dabei relativ schnell auf Triebstruktur und Gesellschaft gestoßen sind, das Herbert Marcuse vor 50 Jahren in den USA veröffentlicht hatte. In der spontan initiierten Ad hoc-Gruppe wurde deshalb in Auseinandersetzung an diesen Versuch Marcuses, die Freudsche Triebtheorie zu soziologisieren das im Kongresstitel benannte Thema in modifizierter Weise diskutiert: Kann aus einer triebtheoretischen Perspektive das Phänomen der aktuell zu beobachtenden zunehmenden Naturalisierung der Gesellschaft angemessen analytisch erfasst werden? Mit dieser Frage war zugleich eine zweite auf den Plan gerufen, nämlich die Frage nach der Figur des Subjekts und dessen Positionierung in aktuellen sozialtheoretischen Vorgehensweisen. Mit Blick auf diese Grund legenden Fragestellungen stellte Marcuses Studie Triebstruktur und Gesellschaft einen gemeinsamen Ausgangspunkt ganz unterschiedlicher Zugänge zum Thema dar - Zugänge, die in diesem Schwerpunktheft der Widersprüche auf Basis der damaligen Beiträge ausgearbeitet und ergänzt wurden.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Aufgrund der unterschiedlichen Zugänge sind sich die hier versammelten Beiträge auch keineswegs einig über das Potenzial, das Marcuses Perspektive für einen analytischen Zugang zu den aktuellen Entwicklungen einer Naturalisierung von Gesellschaft - und Subjektivität - zu eröffnen vermag. So betonen etwa Uwe H. Bittlingmayer und Ullrich Bauer zwar prinzipiell die Notwendigkeit einer sozialpsychologischen Perspektive, sie sehen diesen aber mit Blick auf die Bausteine Kritischer Theorie viel eher in der konstruktivistischen, anti-essentialistischen oder anti-naturalistischen Variante. Sie plädieren darum im Anschluss an Marcuse für eine praxeologische Positionierung, wie sie vor allem von Pierre Bourdieu stark gemacht wurde. Fabian Kessl und Holger Ziegler sind noch etwas skeptischer, was die Aktualisierung des analytischen Potenzials von Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft angeht. Ihre Zweifel beziehen sich vor allem auf die von Marcuse unterstellte Akteursfigur, weshalb sie eher die Rekonstruktion der politischen Regulations- und Rationalitätsmuster des Begehrens vorschlagen. Mit dieser Deutung zeigt sich wiederum Michael May nicht einverstanden, was er entlang einer ausführlichen Rekonstruktion von Marcuses Perspektive verdeutlicht. In seiner kritischen Auseinandersetzung schlägt er daher deren Weiterführung in einer von ihm an anderer Stelle bereits ausführlich ausgearbeiteten Theorie der Selbstregulierung vor. Lars Heinemann nimmt das von Marcuse konzipierte Verhältnis von gesellschaftlicher Totalität und subjektiver Individualität in den Blick und fordert den in dieser Problemstellung angelegten Impetus kritischer Theorie aufzugreifen und neu zu fundieren. Micha Brumlik greift schließlich auf die, Marcuses Studie zugrunde liegende, Freudsche Triebtheorie selbst zurück. Diese habe Freud bekanntlich als Reaktion auf seine eigenen Erfahrungen hinsichtlich des bereitwilligen Massentötens und -sterbens junger Männer in den ersten Jahren des ersten Weltkriegs entwickelt. Frage man sich im Anschluss daran, wie im Laufe von Entwicklung somatische Reize zu Trieben geformt werden, eröffne sich ein luzider Erklärungszusammenhang auf das aktuelle Phänomen von Selbstmordattentaten, so argumentiert Brumlik.
Literatur
DGS 2006: Themenpapier: Die Natur der Gesellschaft. In: Hauptprogramm. Die Natur der Gesellschaft. 33. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. 9.-13. Oktober 2006. Kassel.