
Was kommt danach? Gesellschaftliche Perspektiven jenseits des Neoliberalismus
Schwerpunkt
Seit dem Sommer 2011 hat sich die Hoffnung auf einen bleibenden Aufschwung der Weltwirtschaft als Illusion erwiesen. Nach zwei Jahren relativer Erholung, in der die führenden Ökonomien der hoch entwickelten Länder auf einen Wellenberg der Konjunktur getragen worden waren, sind sie in ein neues Wellental eingetaucht. Dieses zweifache Eintauchen in ein Wellental der Rezession - die Ökonomen nennen es double-dip - ist eine Erfahrung aus der großen Weltwirtschaftskrise nach 1929. Nach einer Zwischenerholung, in der die New-Deal-Regierung des amerikanischen Präsidenten F. D. Roosevelt ihre wachstumsstimulierenden Maßnahmen heruntergefahren hatte, kam es 1937 zu einem dramatischen zweiten Wachstumseinbruch.
Der digitale Kapitalismus potenziert Widersprüche ins Globale. Während täglich Milliarden Dollar um die Börsen der Welt gejagt werden auf der Suche nach noch kurzfristigeren Renditen, werden die Mauern für die der Dynamik des Kapitals folgenden Menschen teilweise abgerissen, teilweise hochgezogen. Für Sportgladiatoren und IT-Fachleute werden Anwerbestoppausnahmeverordnungen erlassen, gegen die anderen werden die Abwehrinstrumente von FRONTEX verfeinert. Während der internationale Massen- und Luxustourismus jährliche Steigerungsraten meldet, kommen im Mittelmeer ungezählte Flüchtlinge ums Leben. Deren Schicksal wird von Schleppern und Neppern bestimmt, das von Millionen Frauen von der Mafia und anderen Menschenhändlerorganisationen. Waffen-, Rauschgift- und Menschenhandel in allen nur denkbaren Formen sind das logische Korrelat des Wertpapierhandels. Denn wo sich die Entfaltung des Finanzkapitals von der territorial verfestigten Produktion abgelöst hat, sind die legalen und vor allem illegalen Handelsströme eine zentrale Quelle des Profits.
Im folgenden Beitrag wird der Fokus auf verschiedene soziokulturelle Facetten wie kultursensible Theoretisierungen der Punitivität gelegt. Auf Grund der Vielzahl unterschiedlicher wissenschaftlicher Kulturkonzepte verzichten wir an dieser Stelle auf eine Definition von Kultur; dennoch muss auf folgendes hingewiesen werden: Punitivität wird von den meisten hier besprochenen Autoren weniger als ein sozialer Fakt gedeutet oder durch strikte kausalanalytische Analysen geformt und ungleich in der Grundgesamtheit verteilt verstanden. Gefolgt wird einem breiten Verständnis von Punitivität, welches sowohl Gesetzesveränderungen als auch gewandelte Strafeinstellungen umfasst, allerdings um Fragen zu moralischen Paniken ergänzt. Dazu ist anzumerken, dass es nicht alleine das kriminalpolitische Feld und dessen Institutionen berührt, sondern nahezu zwangsläufig auch den sich verändernden Kontext der Sozialstaatlichkeit - sprich des Neoliberalismus - thematisiert. Zusammenfassend ließe sich betonen, dass es eher um die Konstruktionslogiken und die Konstitution von Punitivität geht beziehungsweise um ihre Kontextualisierung in modernen bzw. spätmodernen Gesellschaftsformationen. Zentral erscheint die Rekonstruktion von (neoliberalen) Mentalitäten und Sensibilitäten, die mit einer jeweiligen Kultur einhergehen, ihr zugrunde liegen oder aus ihr hervorgehen.
Kindheit, vor allem frühe Kindheit - und ihre Pädagogik (vgl. Wood 2008) -, ist seit Beginn der neoliberalen Offensive über das Konzept von social investment, also Ausgaben als Investionen in Kinderleben werden als profitabel gedacht, ins Interesse von entsprechenden Gesellschaftsregulierungen geraten (Schütter 2006; Hendrick 2010); die Bildungsschicht sucht zudem in verstärkter Weise mithilfe von Klassenstrategien wie Klassenpraktiken die Formierung ihrer Kinder wie deren (erfolgreiche) Lebenswege zu determinieren (Vincent/Ball 2006). Komplementär dazu verhalten sich neoliberale Versuche, den Bildungsbereich mit Prozessen von marketisation und commodification, wie es vor allem in der angelsächsischen kritischen Bildungsforschung analysiert und genannt wird (vgl. Whitty 1998; Wexler 1999; Ball 2003; Widersprüche 2002; Sünker 2003: Kap. II; Sünker i.D.), stromlinienförmig auf Kapitalverwertungsbedürfnisse auszurichten. Damit gerät die Frage nach möglichen Vermittlungen zwischen Kindheitsforschung und Bildungsforschung, Kinderpolitik und Bildungspolitik ins Spiel, lässt sich zugespitzt diskutieren, wenn sie mit der Frage nach einer demokratischen Zukunft unserer Gesellschaft(en) verknüpft wird (Sünker 2008; Bühler-Niederberger/Sünker 2008). Denn diese, gegen den Neoliberalismus gerichtete Perspektivierung verdeutlicht die Bedeutung von Urteilskraft, Reflexivität, Handlungsfähigkeit und Bewusstsein der nachwachsenden Generationen für eine qualifizierte demokratische Zukunftsfähigkeit, in die Individuelles und gesellschaftlich Allgemeines (Sünker 2007) miteinander einhergehen; dies verweist somit immer auch auf die Bedeutung von Bildungsprozessen, die die Grundlage für derartige Entwicklungen und ihre möglichen Ergebnisse als Demokratisierung von Gesellschaft verkörpern.
Forum
Ausgehend von einer ungleichen Verteilung sozialer Güter, deren Zugang für die Angehörigen bestimmter Gruppen leichter ist als für andere, markierte für Niklas Luhmann der Klassenbegriff das Verteilen des Verteilens: Letztlich geht es in dieser Diskussion [die mittels des Klassenbegriffs geführt wird, T.W.] immer um ein Problem der Verteilung von Individuen auf Einheiten, die dann ,Klasse‘ genannt werden, wobei die Verteilung der Individuen sich danach richten soll, was und wieviel auf sie verteilt wird. Wer viel erhält, ist in einer Klasse; wer wenig erhält in einer anderen. Der Klassenbegriff regelt, mit anderen Worten die Verteilung des Verteilens. Er bringt die Reflexivität (und damit auch die Änderbarkeit = Umverteilbarkeit) des Verteilungsprozesses zum Ausdruck (Luhmann 1985: 128). Klasse stellte demnach eine Semantik dar, mit der die Kontingenz von Verteilungsmustern zum Ausdruck gebracht werden kann. Wer also von Klasse, spricht, spricht nicht nur von sozialer Ungleichheit sondern immer auch von der Veränderbarkeit der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse - von Umverteilung. Auch wenn Luhmann alles andere als ein ausgewiesener Klassentheoretiker war und dem Klassenbegriff eher skeptisch gegenübersteht, markiert das von ihm benannte Kriterium der Kontingenz von gesellschaftlichen Verteilungsprinzipien meines Erachtens einen entscheidenden Grund, die Klassenperspektive gerade heute und auch in der Sozialen Arbeit zu beleben.
Rezensionen
Editorial
"Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen."
(Marx/Engels 1848/1972: 465; vgl. Berman 1988; Stedman Jones 2002)
Nachdem gegenwärtig in vielen Feuilletons auf Marx verwiesen, von Konservativen wie Charles Moore bis Frank Schirrmacher der Linken ob ihrer Analysen Recht gegenüber den Rechten gegeben und von Warren Buffett "Stopp Coddling The Super-Rich" (New York Times v. 14.8.11) und Michael Naumann "Wir brauchen bürgerliche Kontrollen, die der Fuck-you-Politik der Finanzwelt etwas entgegensetzen" (FAS v. 28.8.11) gefordert wird, scheint es an der Zeit, sich Gedanken über gesellschaftliche Verhältnisse und Perspektiven, damit auch über gesellschaftspolitische Strategien und ihre Träger, für eine Zeit nach der Herrschaft des Neoliberalismus zu machen - nicht zuletzt auch um die vom Neoliberalismus und seinen Trägern verursachten gesellschaftlichen Probleme und Zerstörungen zu bearbeiten (vgl. dazu etwa die Widersprüche-Hefte 69, 85, 97, 98, 99, 102, 105, 119/120).
Dabei geht es zunächst einmal darum, sich zu vergegenwärtigen, was es mit Genesis und Geltung des Neoliberalismus auf sich hat(te), welche Klasseninteressen und Klassenstrategien hier maßgeblich waren, was zum "Aufleben" des Finanzkapitals warum beigetragen und zu welchen Folgen geführt hat, bevor nach Alternativen gefragt und gesucht werden kann.
"Die historische Dimension der gegenwärtigen Krise sprengt die tradierten Formen der Krisenbewältigung. Denn erstens sind Staaten und nicht mehr private Banken oder Unternehmen verschuldet, zweitens hat die Höhe der Verschuldung, gemessen am jeweiligen Sozialprodukt oder den Exporteinnahmen, fast absurde Dimensionen erreicht, und drittens sind die Gläubiger nicht einzelne Staaten oder Unternehmen, sondern das hochgradig verflochtene und sensible System der transnationalen Banken. Die Rückwirkungen von Bankenzusammenbrüchen wären global und für die gesamte Weltwirtschaft fatal. Dem Charakter dieser in den 'normalen' kapitalistischen Formen nicht mehr zu 'bereinigenden' Krise entsprechend können die Vorschläge zur Bewältigung der Krise nur radikal sein: Es ist unmöglich, aus den Schuldnerländern Jahr für Jahr einen Nettokapitalexport herauszupressen, der noch nicht einmal ausreicht, um die Schuldenlast zu verringern; im Gegenteil, die Schulden haben trotz heroischer Anstrengungen der verschuldeten Länder noch zugenommen. Das bislang praktizierte System der kurzfristigen Umschuldungen kann den Augenblick der Wahrheit hinausschieben, aber nicht vermeiden", schrieb Elmar Altvater einleitend 1985 in einem Interview mit Fidel Castro mit dem Titel "Die Verschuldungskrise der Weltwirtschaft und die aufhaltsame Zerstörung des Kapitalismus durch die Banken" (Castro 1985: 544) - und wir erfahren grade Mitte Oktober 2011, dass "man nun damit rechnet, Griechenland werde mindestens 250 Milliarden Euro in den nächsten Jahren benötigen <...>.
Folgt man der Analyse des Aufstiegs des Neoliberalismus von Keith Dixon (2000; vgl. Hirschman 1995; Saul 1997; Todd 1999; Bourdieu 2004), dann werden Vorgeschichte, Geschichte und Ende dieser Erscheinungsweise von Finanzkapitalismus zumindest etwas deutlicher: Es handelt sich nicht allein um Thatcher und Reagan (
Auch wenn der chilenische diktatorische Weg in Westeuropa nicht verallgemeinert wurde, bleibt doch festzuhalten, dass die Zerstörung von Gesellschaftlichkeit auf den Weg gebracht wurde, indem klassenspezifisch "Gier" als Ausdruck von "Egoismus" internalisiert und strukturell eine weitere Spaltung der Gesellschaft in "Reiche" und "Arme" betrieben wurde. (
Angesichts der gegenwärtigen Krise scheint die Frage nach gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Antworten zu den gegenwärtigen Verhältnissen nicht mehr so hypothetisch wie noch kurze Zeit zuvor. Auch wenn die Antwort "Sozialismus, warum denn nicht?", die Burkart Lutz als ausgewiesener empirischer Gesellschaftsanalytiker (vgl. Lutz 1984) in einem Interview zu der Problematik gesellschaftlicher Perspektiven heute gegeben hat (2009), immer noch verblüffen mag, gilt es doch, Befunde und Perspektiven miteinander zu vermitteln. Dem dienen die Beiträge in unterschiedlichen Akzentuierungen - von politischer Ökonomie bis Kriminalpolitik - im Thementeil dieser Ausgabe der Widersprüche, deren Titel "Nach dem Neoliberalismus?" und Konzept - und darauf ist diesmal gesondert hinzuweisen - im Januar diesen Jahres "erfunden" und entwickelt wurden.
Die Redaktion
Literatur
Berrman, M. 1988: All That IS Solid Melts Into Air. The Experience of Modernity. New York
Bourdieu, P. 2004: Interventionen 1961-2001. Bd. 3 + 4. Hamburg
Castro, F. 1985: Die Verschuldungskrise der Weltwirtschaft und die aufhaltsame Zerstörung des Kapitalismus durch die Banken - eingeleitet von E. Altvater, in: Leviathan 13, 537-557
Chomsky, N. 2011: Gab es eine Alternative? Terorismus und imperiale Mentalität, Universalität und zweierlei Maß, in: Lettre International H. 94, 7-9
Dixon, K. 2000: Die Evangelisten des Marktes. Konstanz
Hirschman, A. 1995: A Propensity to Self-Subversion. Cambridge/London
Lutz, B. 1984: Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhundert. Frankfurt/M.
Lutz, B. 2009: "Sozialismus, warum denn nicht?", in: Mitbestimmung H. 1+2, 48-51
Marx, K. 1969: Das Kapital. 1. Bd. Berlin
Marx, K./Engels, F. 1972: Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, 491-493
Saul, J. R. 1997: Der Markt frißt seine Kinder. Wider die Ökonomisierung der Gesellschaft. Frankfurt/M.
Stern, F. 2007: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. München
Stedman Jones, G. 2002: Introduction, in: Marx/Engels, The Communist Manifesto. London, 3-187
Sünker, H. 2010: Der "kleptokratische Steuerstaat" und Philanthropie als "Gutmenschentum". Wie Sloterdijk mit der Gesellschaftsanalyse Schlitten fährt, in: Soziale Passagen 2, H. 1, 79-94
Todd, E. Die neoliberale Illusion. Über die Stagnation der entwickelten Gesellschaften. Zürich
Anmerkung