Wem hilft die Kinder- und Jugendhilfe? Gegebene Fragen und aktuelle Kontroversen

Schwerpunkt

Heimerziehung in der (alten) Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik - und was wir daraus lernen können Eine Textcollage

In der Bundesrepublik ist das Disziplinarsystem am weitesten verbreitet. Fast alle Fürsorge-Erziehungsheime fallen unter diese Kategorie. Das Disziplinarsystem zeichnet sich durch eine offen autoritäre Struktur aus, die auch im Erziehungsstil des einzelnen Erziehers dominiert. Starre festgelegte Ordnungsprinzipien und ein hierarchisch gegliedertes Beziehungssystem, angefangen bei den Kindern und Jugendlichen in den Gruppen bis hin zum Direktor, bestimmen den Rahmen des Heimlebens und alle zwischenmenschlichen Beziehungen. In der Regel handelt es sich um geschlossene Einrichtungen.

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Geschlossene Heimerziehung in Deutschland vor und nach der Wende Ein Kommentar zur Wiederkehr des Selben

Seit der Abschaffung der geschlossenen Heimerziehung in den achtziger Jahren hat es unter der fachlichen Leitlinie der Lebensweltorientierung viele erfolgreiche Versuche gegeben, mit den besonders schwierigen Kindern ohne geschlossene Heime umzugehen. Dieser Verzicht auf die geschlossenen Heime wurde damit begründet, dass ein Abgleiten dieser Einrichtungen in autoritäre Asyle fast unvermeidlich erscheint, selbst, wenn ihre Protagonisten das nicht beabsichtigt haben. Die jetzt bekannt gewordenen repressiven und autoritären Zustände in der brandenburgischen Einrichtung zeigen das erneut. Doch was ist heute anders? Warum werden geschlossenen Heime der BRD vor der Wende und der DDR heute einmütig verurteilt, während bei den derzeit existierenden Einrichtungen die Beweislast umgekehrt ist?

Wann sind wir zu Hause? Persönliche Reflexionen zur Heimerziehung

Als Familientherapeut und Sozialarbeiter, ausgestattet mit der Erfahrung eines Betroffenen und sozialisiert durch die und innerhalb der sozialistischen Bewegung des 20ten Jahrhunderts geht mir die Auseinandersetzung mit dem Thema Heimerziehung auf eine besondere Art nahe, in der sich persönliche, gesellschaftliche und berufliche Interessen ständig vermischen. Ich musste realisieren, dass mir die Trennung zwischen beruflichem und privatem Bezug zu diesem Thema kaum gelingen wird. Aus diesem Grund habe ich die allseits geforderte professionelle Distanz in eine professionellen Nähe aufheben müssen. Ich wurde ermutigt, meine persönlichen Erfahrungen mit geschlossenen Heimen und meinen Umgang damit zu rekonstruieren und zu erzählen. Hier ist das Ergebnis:

Enteignete Erfahrung? Ein Gespräch zur Politik der Erinnerung an die DDR

Uwe Hirschfeld: Lieber Friedemann, du hast dich, beruflich wie auch biografisch, schon viele Jahre mit Fragen der Geschichte beschäftigt, auch mit der Geschichte der DDR. Was war jetzt der Anlass, dass du dich erneut damit auseinandergesetzt hast? Friedemann Affolderbach: Der ursprüngliche Ausgangspunkt war die Frage der geschlossenen Unterbringung in der DDR und der damit zusammenhängende offene Brief von Lutz Rathenow.

Zur Positionierung der Jugendhilfe Themenbezogene Erörterung aus einem verschütteten Denkhorizont

Unter der Überschrift Wem hilft die Kinder- und Jugendhilfe? sollen in diesem Heft gefundene Antworten und aktuelle Kontroversen vorgestellt werden. Wenn das unter dem Bemühen geschieht, die hegemoniale Vereinnahmung dieses Arbeitsgebietes aufzudecken, läuft das auf die Grundsatzfrage der Positionierung und Profilierung der Jugendhilfe hinaus. In meinem Artikel will ich hinsichtlich des Themas Positionierung dazu einen Beitrag leisten; wobei das naturgemäß aus subjektiv-persönlicher Sicht geschieht.

Ihr wollt unser Bestes? Ihr kriegt es nicht! Notate zur Abschaffung der Heimerziehung

Die folgenden Notate sind Anmerkungen, die eigentlich als Fragestellung formuliert sein müssten und die, jede für sich, einer ausführlichen Begründung bedürften, ebenso wie der Zusammenhang zwischen ihnen. Um Argumente zur Abschaffung der Heimerziehung jedoch zuzuspitzen, stehen die Passagen (relativ) unverbunden nebeneinander. Der Zusammenhang von praller Lebensbewältigung (Notat 1), von Transversalität als Ansatz zu raffinierter Herrschaft und zugleich zu ihrer Subversion (Notat 2), von der Perspektive auf die DDR als Raum ungenutzter Möglichkeiten (Notat 3) mit einer Begründung Sozialer Arbeit, die auf unveräußerlichen Rechten statt auf Korrektur von abweichendem Verhalten (Notat 4) basiert, muss, kann oder darf die Leserin und der Leser selbst herstellen.

Forum

Die Ordnung der konfrontativen Pädagogik Zwischen Präventionsstrategie und Punitivitätskonzept

Im Anschluss an die sozialwissenschaftliche Debatte um Punitivität wird Strafbereitschaft zunehmend im Diskurs über Etablierung von Zwangselementen einer öffentlichen Erziehungspraxis zur Interventionsstrategie und konzeptionalisierten Größe. Im folgenden Beitrag wird aus Anlass des Konzepts Handeln gegen Jugendgewalt der Hamburger Landesregierung - seit 2008 politisch realisiert - nach der strafbetonten Seite der Gewaltpräventionskampagnen und -praktiken gefragt. Dabei werden die kommunalen Strukturen und die konzeptionell-pädagogischen Reaktionen der konfrontativen Pädagogik skizziert, die eine Verbindung zwischen kriminalpolitischen Setzungen und repressiver Normalisierung von Strafimpulsen markieren.

Editorial

Schon die Fragestellung: "Wem hilft die Kinder-und Jugendhilfe?" legt nahe, dass die Adressaten der Sozialen Arbeit bzw. der Jugendhilfe erst in zweiter Linie Kinder und Jugendliche bzw. deren Familien sind, dass Adressaten in erster Linie die Gruppierungen des "Blocks an der Macht" (Gramsci) sind, die ein Interesse an Erhalt oder Veränderung von Machtstrukturen haben, die mit diesem Feld verbunden sind. Diese regulieren, ob Themen der Kinder- und Jugendhilfe eher in den Sicherheitsdiskurs eingebunden werden ("die gefährlichen Jugendlichen in die geschlossene Unterbringung") oder in einen "Emanzipationsdiskurs", der z.B. auf eigenständige Rechte von Kindern und Jugendlichen zielt. Antonio Gramsci formulierte den damit verbundenen hegemonietheoretischen Ansatz wie folgt:

"Gibt es ein einheitliches Kriterium, um gleichermaßen die verschiedenen und spezifischen Tätigkeiten Sozialer Arbeit zu erfassen und sie gleichzeitig und wesentlich von den Tätigkeiten der anderen gesellschaftlichen Gruppierungen abzugrenzen? Der verbreitetste methodische Fehler scheint mir zu sein, daß dieses Unterschiedsmerkmal in der Spezifik der Tätigkeiten Sozialer Arbeit gesucht wird und nicht im ganzen System der Beziehungen, in dem sie, und damit die Gruppen, die sie repräsentieren, als Teil des Gesamtkomplexes der gesellschaftlichen Beziehungen ihren Platz finden <...> Alle Menschen sind SozialarbeiterInnen/SozialpädagogInnen, könnte man sagen: Aber nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funktion von Professionellen der Sozialen Arbeit"(Gramsci 1967: 408/409 - Textvariante, im Original steht "Intellektuelle" statt "Soziale Arbeit"; Hervorhebung der Redaktion ).

"Ausgangspunkte sind also nicht die einzelnen Tätigkeiten (oder deren Merkmale), sondern die Professionellen der Sozialen Arbeit als eine gesellschaftliche Gruppe und deren Einbindung in das gesellschaftliche System. Auch wird diese Gruppe nicht durch ihre Adressaten ('Klienten') definiert, sondern durch Gruppen, 'die sie repräsentieren', also z.B. durch die 'Mittelschichten' oder 'grün-alternative' und 'liberal - bzw. sozialdemokratische' Milieus. Damit sind wir selbst Gegenstand der Analyse und nicht - wie üblich - unser 'Klientel'. Nun sind wir gefragt, wie wir unser Verhältnis zu den Adressaten und anderen Teilen der Gesellschaft definieren. Es geht damit um die Analyse von Beziehungen, von Relationen, in die wir selbst verstrickt sind. Das ist nicht ungefährlich, denn schließlich neigen wir zu idealisierender Selbstüberschätzung oder zu resignativer Selbst-Entwertung" (Kunstreich 2000: 8).

Diese institutionen- und herrschaftskritische Positionierung ist nicht nur der rote Faden in diesem Heft, sondern ist eine Grundlinie unserer redaktionellen Position von Anfang an. (1) So heißt es in Heft 1 vom September 1981, dessen einer Schwerpunkt auch damals schon die Auseinandersetzung um geschlossene Heimerziehung war:

"Nun ist der kapitalistische Vergesellschaftungsprozess ambivalent: Einerseits geraten die sozialen Beziehungen und Zuwendungen in das Korsett einer Rationalität, die die der abstrakten Arbeit, des Werts ist. Andererseits aber werden dadurch gesellschaftliche Bereiche öffentlich und potenziell zum Konfliktfeld antagonistischer Interessen, die vordem privat-sprachloser Unterbau gesellschaftlicher Herrschaft waren. Mit der Vergesellschaftung drängen sowohl die gesellschaftlichen Leiden, als auch fortgeschrittene, 'kulturrevolutionäre' Bedürfnisse in die Institutionen. Zunehmend wird dadurch öffentlich und gleichzeitig angreifbar, um welche Re-Produktion es geht und gehen soll: um die Re-Produktion eines menschenverschleißenden Herrschaftsverhältnisses oder um die selbstbestimmte Produktion von Beziehungen, Fähigkeiten und Möglichkeiten!" (Redaktion Widersprüche 1981: 11).

In diesem Heft kreuzen sich zwei Tendenzen, die aus dem "privat-sprachlosen Unterbau gesellschaftlicher Herrschaft" in Richtung auf "selbstbestimmte Produktion von Beziehungen, Fähigkeiten und Möglichkeiten" zielen: zum einen die Anerkennung der Leiden der Heimzöglinge mit der Perspektive, jegliche Institution geschlossener Unterbringung abzuschaffen und zum anderen die Auseinandersetzung um Erinnerungsdiskurse über Erfahrungen und Strukturen in der DDR. Beide Stränge kreuzen sich zweimal. Die eine Kreuzung thematisiert die Frage, ob die Heimerziehung in der Bundesrepublik (zumindest bis Mitte der 70er Jahre) ein Unrechtssystem in einer sich als sozialer Rechtsstaat verstehenden Gesellschaft sein kann, der andere Kreuzungspunkt fragt nach dem wenn nicht Bewahrenswerten, so doch nach dem (im Bloch‘schen Sinne) Unabgegoltenen aus den "Errungenschaften" der DDR. Zum ersten Kreuzungspunkt bezieht die Redaktion eine klare Position: Jegliche Form geschlossener Unterbringung muss abgeschafft werden; zur zweiten gibt es Auseinandersetzungen darüber, was es jenseits des Etiketts "Unrechtsstaat" an Bewahrenswertem gibt, und wenn es so etwas gibt, welche Bedeutung es heute hat. Auch zu der Frage, wie mit der Thematisierung von Verantwortlichkeit umzugehen sei, gibt es unterschiedliche Positionen. Wir hoffen, dass diese Themen in Zukunft vertiefend weitergeführt werden. Die Beiträge in diesem Heft sind dazu ein Anfang. Eine Fortsetzung dieser Diskussion gibt es in der ersten Ausgabe dieser Zeitschrift des Jahrganges 2014 (Heft 131). Darin wird es insbesondere um die praktischen Konsequenzen dieser Auseinandersetzung gehen.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Um einen Einstieg in die Diskussion beider Stränge zu finden, gibt es kaum einen geeigneteren Autoren als Manfred Kappeler. Aus der Collage von vier seiner Texte wird zum einen die zeitliche Dimension deutlich - seine Kritik aus dem legendären Reader "Gefesselte Jugend" von 1971 trifft auch z.B. die Haasenburg von heute -, zum anderen macht er (auch als Mitglied der "Runden Tische Heimerziehung" in Ost und West) deutlich, dass das System der Heimerziehung sowohl im Westen als auch im Osten ein Unrechtssystem war und dass deshalb die ehemaligen Insassen nicht individuell und mit Bedürftigkeitsprüfungen rehabilitiert werden dürfen, sondern nur strukturell durch Rechtsansprüche, insbesondere in Bezug auf Rente und gesundheitliche Versorgung. Dass auch nach der einhelligen öffentlichen Verurteilung der repressiven Heimerziehung in West und Ost - trotz aller Sonntagsreden und anderer Bekundungen - weiterhin geschlossen untergebracht wird, daran erinnert Michael Lindenberg in seinem Kommentar.

Es folgen drei Erfahrungsberichte mit analytischer Zielsetzung, die das Thema Heimerziehung und DDR/BRD in jeweils unterschiedlicher Weise miteinander verschränken. Vadim Riga nimmt die zerstörerischen Erfahrungen seiner Kindheit im Heim zum Anlass, nach dem persönlichen und gesellschaftlichen "Zuhause" zu fragen. Im Gespräch mit Uwe Hirschfeld geht Friedemann Affolderbach der komplexen Frage nach, wie jemand, der zum autoritären SED-Regime in Opposition stand, dennoch an befreienden Perspektiven sozialistischer Provenienz festhalten kann.

Eberhard Mannschatz geht von der hegemonialen Einbindung der Jugendhilfe aus und schlägt vor, an "verschüttete Ansätze" anzuschließen, um zu einer eigenständigen Position sozialpädagogischer Theorie und Praxis zu gelangen, die die Perspektive der Kinder- und Jugendarbeit als Projekte "gemeinsamer Aufgabenbewältigung" konzipiert. Abschließend versucht Timm Kunstreich, die Tatsache, dass nicht Kinder und Jugendliche die primären Adressaten des mit ihnen verbundenen Politikfeldes sind, dahin zu wenden, dass jegliche Form traditioneller Heimerziehung unter heutigen Bedingungen überflüssig ist - ganz schweigen von geschlossener Unterbringung.

Auch die Beiträge im Forum - Sven Heuer kritisiert die Ordnung der "konfrontativen Pädagogik" - und unsere Rezension - Sandra Küchler stellt die herausragende Untersuchung von Marcus Hußmann vor - vertiefen die Aspekte der Diskussion um Heimerziehung.

Die Redaktion

Wer die Linie weiter verfolgen möchte, werfe einen Blick in die grundlegenden Thesen der Redaktion (Hefte 11, 15, 32, zusammenfassend: 66), in die Hefte zum Thema "Zwang" (106, 109, 118) und in die zum Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe (79, 82, 84, 88, 89, 90, 97, 99, 110)

Literatur

Autorenkollektiv 1971: Gefesselte Jugend. Frankfurt a.M.

Gramsci, Antonio 1967: Philosophie der Praxis. Frankfurt a.M.

Kunstreich, Timm 2000: Grundkurs Soziale Arbeit, Bd. I. Bielefeld